Seit fast vierzig Jahren ist der Kunstfotograf Timm Stütz mit Stettin verbunden. Seit 1992 lebt der gebürtige Dresdner mit seiner Frau in der Nähe Stettins. Wenn er von seinem Großonkel Adalbert Stütz erzählt, verbirgt er seine Gefühle nicht.
Seit zwei Jahren studiert er neu aufgefundene, alte Dokumente, lernt ihm unbekannte Tatsachen kennen, die mit Adalbert Stütz und Karl May zu tun haben. Dabei stößt er auch auf das Spätwerk von Karl May, von dem bis vor kurzem kaum die Rede war. In kurzer Zeit entdeckt er viel schwer einzuordnendes Neues und es kommt immer noch mehr dazu.
Karl May und Adalbert Stütz kannten sich wohl eher nicht. Ersterer lebte von 1842 bis 1912, Stütz von 1878 bis 1957, war also 35 Jahre jünger. Nach dem Ersten Weltkrieg begann seine Zusammenarbeit mit dem Karl-May-Verlag.
Timm Stütz
Er ist Kunstfotograf, Autor vieler Ausstellungen, Publizist, Übersetzer, Herausgeber. Er bekam zahlreiche Auszeichnungen und gehört polnischen, deutschen und weiteren internationalen Fotografischen Gesellschaften an. Er arbeitet mit Schwarz-Weiß-Fotografie, prädestiniert für poetische und symbolistische Aufnahmen, die eine besondere Sensibilität für Bildkompositionen verlangen. Sein künstlerisches Vorbild ist Henri Cartier-Bresson (1908-2004), Erfinder der Konzeption des „entscheidenden Moments”, man nennt ihn den Poeten und Philosophen der Fotografie.
Timm Stütz wurde 1938 in Dresden geboren. In seinen, dem Album über seine Heimatstadt beigefügten, Erinnerungen schreibt er, das Haus seiner Familie habe sich im Zentrum der Altstadt befunden und als Kinder hätten sie dort trotz des Weltkriegs ein glückliches Leben geführt. Aufgewühlt hat ihn die Nachricht, dass der Vater, der eines Tages weggefahren war, nie mehr zurückkommen würde. Als in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 Tausende von Bomben auf Dresden fielen, war Timm Stütz sechs Jahre alt. Das Trauma dieser Nacht hat er lange nicht überwunden und nie vergessen.
Als heranwachsender Jugendlicher las er mit Leidenschaft – wie alle Jungen damals – die indianischen Erzählungen Karl Mays: „Winnetou”, „Der Schatz im Silbersee”, „Old Surehand”. Über das spätere Schaffen des Autors, seine mystischen, symbolistischen und pazifistischen Erzählungen, wie z.B. „Ardistan und Dschinnistan”, Band IV von „Winnetou” und am wichtigsten „Und Friede auf Erden” wusste er lange nichts. Er ist davon überzeugt, dass es sich dabei um einen außergewöhnlichen Teil von Mays Werken handelt, der heute aktuelle Bedeutung hat.
Timm Stütz liebt es, die Welt kennen zu lernen, er segelte viel. Sein Album über pommersche Segelschiffe „Erlebniswelt Zeesenboote” (plattdeutsch: Zeesboote), herausgegeben in tintenblauer Farbe vom Stettiner Verlag Walkowska und dem Leipziger Engelsdorfer Verlag, ist inzwischen eine bibliophile Kostbarkeit. In deutscher Sprache veröffentlichte er sein Tagebuch, in dem er die Streiks vom August 1980 in Stettin und das Wirken des Kriegsrechts beschreibt. Zwei mal hat er es neu aufgelegt und dabei seine Reflexionen über Polen vertieft. Seine Reisen unternimmt er oft gemeinsam mit seiner Frau. Danach publizieren sie Fotoalben, es sind schon mehr als ein Dutzend. 2010 veröffentlichte Timm Stütz ein Album über Peru mit poetischen Fotos aus den Anden: Landschaften, Porträts der Einwohner, Mythen und Geschichten der Inkas.
Vor zwei Jahren war er zum 24. Kongress der Karl-May-Gesellschaft eingeladen. Die Anzahl der Teilnehmer, die Vorträge von Fachleuten und auch die Diskussionen beeindruckten ihn. Er erkundigte sich nach Adalbert Stütz, erfuhr dort aber nichts. Wie kam es also dazu, dass er ein Buch über ihn vorbereiten konnte, das in zwei Monaten erscheinen soll. Eben wusste er noch so wenig über ihn. 2018 publizierte er Fotos aus Peru in einem mit mythischen Texten von Karl May ergänzten Buch.
Karl May
Karl May ist der am meisten verlegte deutschsprachige Schriftsteller auf der Welt, das betrifft vor allem die Abenteuergeschichten aus dem Leben der Indianer. Heutzutage sind sie schon nicht mehr so populär. Andere Zeiten, andere Helden. Aber Winnetou kennt schließlich jeder!
Es lohnt an die unterschiedliche Geschichte dieser Bücher zu erinnern. Sie wurden politisch instrumentalisiert. Als der Schriftsteller schon lange nicht mehr lebte, gaben die Nazis den Druck dieser Bücher in Auftrag und packten sie in die Rucksäcke der an die Front geschickten Soldaten. Deshalb durften sie nach 1945 in beiden deutschen Staaten lange Zeit nicht wieder aufgelegt werden. In Polen unterlagen sie bis 1951 der Zensur. Die Bücher wurden aus den Bibliotheken entfernt.
Heute widmet man sich in Deutschland den mystischen und pazifistischen Büchern des Winnetou-Autoren mit besonderer Aufmerksamkeit. So vor allem die Karl-May-Gesellschaft, eine der größten literarischen Gesellschaften in Deutschland, die zusammen mit der Stiftung das Erbe des Schriftstellers betreut und eine wissenschaftlich-kritische Edition seines Schaffens vorbereitet.
Es heißt, Karl May sei „der letzte Großmystiker der deutschen Literatur” gewesen, so hatte ihn vor Jahren der Schriftsteller und Übersetzer Arno Schmidt bezeichnet.
Adalbert Stütz
Wie schon gesagt, lebte er von 1878 bis 1957. Schon als Kind war er von den Abenteuergeschichten Karl Mays fasziniert, lernte Sprachen und Dialekte der Indianer. Schließlich beherrschte er über 300. Er kannte auch mehrere europäische Sprachen – er war ein Sprachgenie.
Timm Stütz wollte mehr über ihn wissen. Er erkundigte sich beim Karl-May-Verlag nach eventuellen Dokumenten. Aber sie waren irgendwo im Archiv untergegangen.
Nach einem halben Jahr rief Bernhard Schmid, Geschäftsführer des Verlags (seinem Großvater und Vater folgend), ihn an und teilte ihm mit, dass drei dicke dienstliche Aktenordner und elf Privatakten von Adalbert Stütz aufgefunden worden seien. Seit Jahrzehnten habe sie niemand angeschaut.
Für Timm Stütz begannen daraufhin außergewöhnliche Tage. Nach vielen Jahren las er als erster alte Dokumente und Briefe. Es war wie die Entdeckung unbekannter Kontinente. Er erfuhr, dass Adalbert Stütz zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zehn Jahre lang „Oberzahlmeister der Kaiserlichen Marine” war. Damals war er durch Nord- und Ostsee gekreuzt, war auf allen dortigen Inseln, auch in den Häfen Westeuropas, Lateinamerikas und an der Küste Nordamerikas. Wahrscheinlich traf er dort Indianer und lernte ihr schweres Leben in den Reservaten kennen. Er kannte ihre Sprachen, konnte sich also mit ihnen verständigen.
Nach der Rückkehr nach Deutschland musterte er aus und arbeitete fortan in der Erfurter Stadtverwaltung. Zu Kriegsbeginn 1914 meldete er sich zum Kriegsdienst.
Karl May war zwei Jahre vorher gestorben. 1913 hatte seine zweite Frau Klara eine Stiftung seines Namens gegründet, ein Verlag und ein Museum waren entstanden.
Als Adalbert Stütz 1918 aus dem Krieg kam, schlug er dem Verlag seine Mitarbeit vor. Er wollte bei einer erneuten Herausgabe von Mays Indianer-Büchern sprachliche Erläuterungen und Kommentare einfügen. Euchar Schmid, erster Geschäftsführer des Verlags, beschloss Fehler der früheren Ausgaben zu korrigieren. Zu diesem Zweck richtete er eine Lektoren-Gruppe ein und schlug Adalbert Stütz seiner Sprachkenntnisse wegen eine Zusammenarbeit vor, die schließlich 39 Jahre andauerte.
Timm Stütz sagt, das Wissen von Adalbert Stütz über die Sprachkultur der Indianer sei imponierend gewesen. Zum Beispiel habe er die Bedeutung des Vornamens Winnetou erklärt: Dieser sei vom Wort „vintu” aus der französischen Umgangssprache abgeleitet, was einfach Indianer bedeutete. Die sprachwissenschaftliche Beweisführung lieferte er in einem 1922 veröffentlichten wissenschaftlichen Artikel. Er verfasste Bücher und Artikel, und 1928-1930 das Epos „Die Kinder Manitous”, das zu seinen Lebzeiten nicht mehr veröffentlicht wurde. In einem der letzten erhaltenen Briefe steht: „Ich hoffe, dass meine Nachkommen sich dafür interessieren und es veröffentlichen.”
Das Manuskript „Die Kinder Manitous” befand sich ebenfalls im Verlag. Timm Stütz charakterisiert den Text als „Iliade” der Indianer Nordamerikas. Das handschriftliche Manuskript umfasst 200 Seiten, 14 Kapitel und 1500 Strophen. Fachleute schätzen es als sehr gutes Werk ein und empfehlen eine Veröffentlichung.
Karl May – Timm Stütz
Die Beschäftigung mit dem Leben von Adalbert Stütz bedeutete zugleich ein Kennenlernen des Schaffens von Karl May. Timm Stütz entdeckt sein Spätwerk, das er vorher nie gelesen hatte. Im Unterschied zu den drei Bänden „Winnetou” war es nie massenhaft aufgelegt und gelesen worden. Karl May entwickelt dort seine Idee vom Frieden und Pazifismus. Timm Stütz meint, diese Schriften „passen zur heutigen Zeit”.
Vor einiger Zeit erhielt er überraschend den Auftrag, eine Auswahl des Spätwerks von Karl May, die der Präsident der Karl-May-Gesellschaft, Hartmut Wörner*, vorbereitet, mit seinen Fotos u.a. aus Peru zu illustrieren. Wörner kannte Schwarz-Weiß-Fotos von Stütz aus einem Album über Krakau. Ihm gefiel das Metaphorische daran und die Nähe zum Schaffen Karl Mays. Schließlich erschien 2018 ihr gemeinsames Buch unter dem Titel „Karl May – Märchen und Visionen”. Die Kritik nahm das Buch positiv auf. Es wurde auf den Internationalen Buchmessen in Leipzig und Frankfurt am Main vorgestellt.
Pazifismus
Timm Stütz interessierte sich für die Anti-Kriegs-Haltung von Karl May, am stärksten entwickelt in der mystischen Erzählung „Und Friede auf Erden” (1901). Die Handlung spielt in China.
Ende des 19. Jahrhunderts wollte Deutschland, ähnlich wie andere Staaten Europas, Kolonien in China besitzen. Es gab also Bedarf an Büchern über dieses Land. Als Deutschland 1898 eine Konzession in Kiautschou erhielt, bestellte einer der bekannten Verleger (Kürschner) bei Karl May einen Abenteuergeschichte, die in China spielen sollte. Dort herrschte damals aufgrund der Kolonisierungsmaßnahmen der Staaten Europas, der USA und Japans große Unruhe. Schließlich entwickelte sich der Widerstand gegen die Kolonisatoren zum „Boxer-Aufstand”.
Karl May identifizierte sich damals schon mit dem Pazifismus und schrieb fortlaufende Kapitel des neuen Buchs in diesem Geist. Der Verleger war verblüfft, denn so hatte er sich das nicht vorgestellt. Trotzdem gab er das Buch 1901 heraus.
Die Erzählung „Und Friede auf Erden” erzählt von Edelmenschen verschiedener Rassen, Nationen und Religionen, die in China zusammenkommen. Sie haben dort ihre Burg, die Gesellschaft „Shen”, sie glauben an einen Gott, den sie unterschiedlich nennen. Karl May schrieb mehrere Bücher in diesem Geist.
Timm Stütz bereitete eine Ausstellung mit eigenen Fotografien und mystischen Texten von Karl May vor, die Hartmut Wörner* ausgewählt hatte. Diese Ausstellung ist an unterschiedlichen Orten in Deutschland zu sehen, in Stettin wird sie bis Ende 2019 im Lesesaal des Goethe Instituts zu sehen sein. Die Ausstellung hat den Titel „Großmystiker trifft Kunstfotograf”.
Er stellte auch Kalender für 2019 und 2020 mit symbolhaften Fotos aus Peru, Italien, Dresden, Stettin und unterschiedlichen Orten in Polen her, denen Zitate aus den Briefen von Karl May, aus dessen Spätwerk und aus einem Vortrag, den der Schriftsteller 1912 in Wien gehalten hatte, beigefügt sind. Auch die Kalender tragen den Titel „Großmystiker trifft Kunstfotograf”. Der zweite trägt noch den weiteren Titel: „Und Friede auf Erden”.
Krieg und Frieden
1906 schrieb Karl May, nicht der Krieg, sondern der Frieden schaffe mutige Menschen. „Männer des Geistes, der Wissenschaft und der Kunst sind uns vonnöten”.
Am 22. Mai 1912 hielt er einen Vortrag in Wien: „Empor ins Reich des Edelmenschen”. 2000 Personen hörten ihm zu, unter ihnen Klara, seine Frau und Bertha von Suttner, oesterreichische Pazifistin, Autorin der Erzählung „Die Waffen nieder”, Ehrenvorsitzende des Internationalen Ständigen Büros für Frieden, erste Preisträgerin des Friedensnobelpreises (1905). Der Schriftsteller verurteilte den Militarismus und forderte eine Entwicklung der Welt, die den Menschen veredele. Er sprach von Nächstenliebe, Humanismus, vom Frieden und darüber, dass die Menschen alles zur Rettung der Welt unternehmen müssten.
Aber die einflussreiche Welt dachte anders. Am nächsten Tag kritisierten viele Zeitungen den Vortrag scharf. Karl May und Klara fuhren nach Hause, nach Radebeul bei Dresden. Acht Tage nach seinem Vortrag starb der Schriftsteller. Bis zum Ende seines Lebens hatte er gehofft, das 20. Jahrhundert würde zu einem Jahrhundert des Friedens im Unterschied zum 19. Jahrhundert voller Kriege.
Zwei Jahre später begann der Erste Weltkrieg und 20 Jahre nach dem Ende des Ersten begann der Zweite Weltkrieg. Als das 20. Jahrhundert zu Ende war, hofften viele Menschen dass das 21. Jahrhundert zum Jahrhundert des Friedens würde.
Unbekannte Cousins
Wenn man Familienalben betrachtet, kann man unbekannte Geschichten entdecken. So erging es Timm Stütz. Bisher dachte er, Adalbert Stütz hätte zwei Söhne gehabt, die beide im Krieg umgekommen seien. Aus den Briefen ging jedoch hervor, dass es noch einen dritten Sohn gab, der den Krieg überlebt hatte. Nach weiteren Informationen suchte er u.a. in Wilhelmshaven, wo man ihm sagte, der Sohn habe sich nicht Stütz genannt, sondern Harken (nach der Mutter) und sei 2011 im Alter von 94 Jahren verstorben. Man erzählte ihm auch, dessen Söhne seien in den 50er Jahren nach Stuttgart gezogen.
„Ich dachte mir, die Namen habe ich, vielleicht finde ich eine Telefonnummer” erzählt Timm Stütz. „Ich schaue im Stuttgarter Telefonverzeichnis nach, aber da gibt es zwanzig mal den Namen Harken! Bei wem sollte ich anrufen?”
Schließlich ruft er an einem Sonntag einfach eine der Telefonnummern an. „Ein Mann meldet sich. Etwas nervös erkläre ich, worum es geht. Er hört zu und nach ein paar Minuten fragt er, woher ich seinen Großvater kenne. Was für eine Überraschung. Er habe zwei Brüder erzählt er. Und plötzlich zeigt sich, dass ich eine größere Familie habe. Das war komisch, ich habe drei Cousins gefunden.”
Entscheidender Moment
Im Lauf von nicht ganz zwei Jahren fand und studierte Timm Stütz Dokumente, Briefe und Manuskripte von Adalbert Stütz. Er verfasste ein Buch über ihn, das der Karl-May-Verlag im Oktober auf der Internationalen Buchmesse in Frankfurt am Main und vorher auf dem 25. Kongress der Karl-May-Gesellschaft in Mainz vorstellen wird.
Timm Stütz fand Cousins, die er nicht gekannt hatte, und im Spätwerk Karl Mays und in den Handschriften von Adalbert Stütz den Traum vom Frieden auf Erden. Das ist auch sein Traum, der Traum eines sechsjährigen Jungen, der mit seiner Mama und seiner zweijährigen Schwester nachts zwischen einstürzenden Häusern durch das brennende Dresden gelaufen ist. Von diesem Traum handeln seine poetischen Fotografien, von Menschen und Landschaften in einer einmaligen Situation, im entscheidenden Moment.
Timm Stütz lebt bei Stettin. Letztes Jahr wurde er 80 Jahre alt. Aus diesem Anlass gab es in Stettin mehrere Fotoausstellungen. Die nächsten bereitet er vor.
Bogdan TWARDOCHLEB
Aus dem Polnischen von Ruth HENNING
* Hartmut Wörner, Geschäftsführer der Karl-May-Gesellschaft, veröffentlichte 2015 eine Monographie zu Karl May und Hermann Hesse und gab 2017 die May-Anthologie ‚Das Ross der Himmelsphantasie’ heraus. 2018 war er Herausgeber des Buches ‚Märchen und Visionen’, in dem visionäre, legendenhafte Texte aus dem symbolistischen Spätwerk Karl Mays und Bilder des Kunstfotografen Timm Stütz (*1938, Excellence de FIAP) in einen künstlerischen Dialog treten. Er initiierte 2018 auch die Posterausstellung „’Großmystiker’ trifft Kunstfotograf” mit Bildern von Timm Stütz und Texten von Karl May.