15 Bürgermeister aus Vorpommern und der Landrat des Landkreises Vorpommern-Greifswald richteten einen Appell an die Berliner. „Ob das wunderbare Vorpommern die Probleme der gestressten Berliner lösen kann?” fragt deshalb Jürgen Mladek, Chefredakteur des „Nordkurier”. Patrick Dahlemann, Staatssekretär für Vorpommern, erinnert konsequent daran, dass die Region die Dynamik der beiden Städte – Stettin und Berlin – nutzen sollte.
In diesem Frühjahr stellte das bekannte Berliner Architektenbüro Stadler/Prenn die Vision der Metropole Berlin-Greifswald vor. Dort heißt es, im Jahr 2030 werde die Reise zwischen diesen beiden Städten (200 km!) nur noch 10 Minuten dauern. Futurologie?
Was fehlt den Berlinern?
Im Berliner „Tagesspiegel” und im „Nordkurier” (Regionalzeitung für den Osten Mecklenburg-Vorpommerns) erschienen fast gleichzeitig entsprechende Artikel. Die Autoren Reinhart Bünger und Andreas Becker berichten, 15 Bürgermeister der Städte Vorpommerns, u.a. Greifswald, Anklam, Pasewalk, Torgelow, Ueckermünde, Eggesin und der Landrat des Landkreises Vorpommern-Greifswald hätten einen Appell an die Berliner unter der Überschrift „Lasst uns über ein größeres Berlin nachdenken” gerichtet. Den Bewohnern der deutschen Hauptstadt schlügen sie vor, sich in Vorpommern anzusiedeln, anders ausgedrückt, entwickelten sie die Idee von einer Erweiterung Berlins bis an die Ostsee und ans Stettiner Haff.
Vorpommern, die Region zwischen Berlin und Stettin, sucht ständig nach Möglichkeiten, den demographischen und wirtschaftlichen Kollaps zu überwinden, in dem sie sich seit der Vereinigung Deutschlands befindet. Ob eine schnelle Entwicklung Berlins und neue Technologien dabei helfen können?
Andreas Becker (Nordkurier) schreibt, in den letzten Jahren werde es in Berlin immer enger. Auf 900 Quadratmeter lebten hier 3,5 Millionen Menschen (3.900 Personen auf einem Quadratkilometer.) Die Wohnungen würden immer teurer, die Auto-Staus immer länger, die Luft immer schlechter, das tägliche Leben immer nervöser, der Stress immer größer.
Vorpommern habe dagegen alles zu bieten, was in Berlin fehle, so Becker: Landschaften, in denen man durchatmen könne, freie Räume, idyllische Ruhe, Stille, Meer, Strand, saubere Luft.
Die Bürgermeister und der Landrat schreiben: „Vorpommern kann die Probleme Berlins lösen. Wir können gemeinsam einen produktiven und kreativen Lebensraum entwickeln, der von Berlin bis zur Ostsee reicht und eine der spannendsten Herausforderungen unserer Zeit mutig und entschlossen annimmt: die lebenswerte Balance zwischen urbanen Zentren und ländlichen Räumen zu schaffen.”
Digitale Dörfer
Patrick Dahlemann (SPD), parlamentarischer Staatssekretär für Vorpommern bei der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommerns in Schwerin, und zugleich konsequenter Lobbyist Stettins und der deutsch-polnischen Zusammenarbeit, unterstützt den Appell der Bürgermeister. In der vorgestellten Idee erkennt er ein wichtiges Projekt zur Entwicklung der Region. Seit langem vertritt er die These, dass das zwischen den Metropolen Stettin und Berlin gelegene Vorpommern sich die Dynamik beider Städte zunutze machen sollte.
„Wir haben die einmalige Chance, die Wachstumsimpulse aus der beeindruckenden Dynamik Stettins mit der noch weitaus größeren Dynamik Berlins zu vereinen, weil wir genau in der Mitte zwischen ihnen liegen. Berlin, die Gründerhauptstadt Europas, und einer der wichtigsten Hightech-, Wissenschafts- und Innovationsstandorte des Kontinents ist unser Nachbar, ähnlich wie Stettin.”
Der Landrat des Landkreises Vorpommern-Greifswald Michael Sack (CDU) hofft, dass die Autoren des Appells Gespräche über ihre Vorschläge mit Berlin beginnen. Seiner Meinung nach handelt es sich um eine außergewöhnliche Aufgabe aber auch um eine unwiederbringliche Chance für Berlin und Vorpommern.
Soziologen, die moderne städtische Gesellschaften untersuchen, registrieren, dass Firmen, die auf dem Gebiet avancierter Technologie der Informatik arbeiten, aus den überfüllten Metropolen, wie eben Berlin, in die Provinz fliehen. Dank der Digitalisierung der Arbeitswelt ist es möglich aus der Entfernung zu arbeiten, Aufträge können via Internet angenommen und realisiert werden. Deswegen entstehen in der Umgebung der Metropolen bereits jetzt „digitale Dörfer”, die von solchen Firmen gegründet werden. Die bei ihnen beschäftigten Menschen arbeiten in naturnaher Umgebung ohne Lärm, und die Firmen müssen keine horrenden Büromieten bezahlen. Solche digitalen Dörfer moderner Firmen aus Berlin könnten z.B. auch am Stettiner Haff entstehen.
Andreas Becker erinnert daran, dass Berlin von Ueckermünde nur 170 Kilometer entfernt ist.
Die Firmenmanager suchen allerdings Orte, in denen man mit Berlin gut kommunizieren kann, schnelles Internet ist die Voraussetzung dieser Kommunikation. Damit hat Vorpommern allerdings immer noch Probleme.
Bedingung: Gute Kommunikationsmöglichkeiten
Den Appell der Bürgermeister unterstützt die Ministerpräsidentin Mecklenburg-Vorpommerns Manuela Schwesig (SPD). Um die infrastrukturellen Voraussetzungen zu schaffen, engagiere sich die Landesregierung in Schwerin für Modernisierung und Ausbau der Bahnlinie Berlin-Pasewalk-Stralsund. Schwesig kündigt an, dass die während des Zweiten Weltkriegs zerstörte legendäre Hubbrücke in Karnin bei Anklam wieder aufgebaut werden solle, denn damit könnte die Zeit der Zugfahrt von Berlin an die Ostsee und auf die Insel Usedom erheblich verkürzt werden, weniger Autos wären unterwegs und auch das Stettiner Haff könnte schneller erreicht werden. „Bei uns kann man da leben und arbeiten, wo andere Urlaub machen”, sagt Manuela Schwesig. Es geht aber auch umgekehrt – in Berlin wohnen und in Vorpommern arbeiten.
Die Einwohner Usedoms bemühen sich schon mindestens seit einem Vierteljahrhundert um den Wiederaufbau der Brücke in Karnin. In diesem Frühjahr haben sie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Anklam demonstrativ daran erinnert.
Metropole Greifswald-Berlin
Das an der Ostsee gelegene Greifswald ist nicht groß, dort leben 56.000 Menschen. Die Urbanisten aus dem Büro Stadler/Prenn meinen, das sei heute ein Vorteil.
Sie schreiben, in Greifswald gebe es u.a. eine hoch angesehene Universität; dann das Max-Planck-Institut für Plasmaphysik, wo fortgeschrittene Arbeiten mit der Erzeugung künstlicher Sonne stattfinden, einer vollständig neuen, praktisch nie versagenden, sauberen Energiequelle; und das Friedrich-Löffler-Institut, mit einem der weltweit modernsten Institute für molekurale Virologie und Zellbiologie. Greifswald biete also Modernität, viel freien Raum und in der Nähe Ostsee, Freiheit, Strand und Wälder sowie Rügen und Usedom.
Thomas Stadler, Architekt und Urbanist aus dem Büro Stadler/Prenn ging weiter. Im Frühjahr präsentierte er in Greifswald die Vision einer Metropolregion Greifswald-Berlin und die ‚Seaside’ Berlins. Stadler meint, die Verbindung der Hauptstadt-Dynamik mit Landschaftsräumen könne der Metropole Atem verschaffen, einen ungewöhnlichen Entwicklungsimpuls verleihen, bei Firmen mit hohem Technologiestandard und bei Start-Ups auf Interesse stoßen, die klügsten Menschen aus der ganzen Welt anziehen, ein deutsches ‚Silicon Valley’ entstehen lassen. Stadler stellt sich vor, beide Städte wären durch eine Hyperloop-Magnetbahn verbunden, dann könnte diese neue Metropole gute Arbeit, angenehme Lebensbedingungen und reiche soziale Kontaktmöglichkeiten, Erholung und Teilnahme am Kulturleben bieten.
Visionen und Experimente
Heute hört sich das alles an wie ein futuristisches Märchen. Aber seit einigen Jahren gibt es intensive Arbeiten an der Entwicklung von Eisenbahnen neuen Typs. Hyperloop, das ist die Idee des in Südafrika geborenen, amerikanischen Visionärs und Geschäftsmanns Elon Musk, der zu den reichsten Menschen der Welt gehört. Musk hat u.a. solche machtvollen Unternehmen geschaffen wie PayPal (Bankengeschäft), SpaceX (Raumschiffe für Mars-Reisen), Tesla Inc. (Herstellung von Elektro-Autos und Hochgeschwindigkeits-Verkehrssystemen), Neuralink (Neurotechnologie, künstliche Intelligenz).
Das Hochgeschwindigkeitssystem Hyperloop ist eine Vakuum-Magnetbahn, vollkommen ökologisch, die – wie Musk sagt – schon in 10-20 Jahren Passagiere in einer Geschwindigkeit von 1000-1200 km/h transportieren könnte. An einer Magnetbahn wird in den USA (im letzten Jahr präsentierte Musk dort den Vakuum-Tunnel einer solchen Bahn), in der Schweiz, Italien, Frankreich, Niederlanden, Spanien und Deutschland gearbeitet.
In Polen arbeitet die Firma Hyper Poland daran, ein vor zwei Jahren von Student*innen und Absolvent*innen des Warschauer und Breslauer Polytechnikums und einigen weiteren Hochschulen gegründetes Start-Up. Diese Firma bekam kürzlich 16,5 Millionen Złoty Fördergelder vom Nationalen Zentrum für Forschung und Entwicklung. Auf dem Terrain des Eisenbahninstituts in Żmigród baut sie ein Bahngleis für Experimente. Zuerst wird dort die Magnetbahn Magrail getestet, die eine Schnelligkeit bis zu 300 km/h erreicht, dann die Hyperrail (600 km/h) und danach die Hyperloop (1000 km/h). Testversuche mit Passagieren sind für 2025 geplant. Die Deutsche Bahn führt ihre Experimente mit Hyperloop im Nahen Osten durch.
Probleme der Schaffner
Es sieht so aus, als sei Hyperloop die futurologische Fantasie begnadeter Visionäre. Allerdings revolutioniert die Digitalisierung in den letzten Jahren die Welt. Heute verfügt das handliche Smartphone über bedeutend größere Operationsmöglichkeiten als vor kurzem noch der mächtige Großcomputer. Die Welt wird sich auch weiterhin rasant verändern.
Der Nachteil beim Hyperloop besteht darin, dass der Bau spezieller magnetischer Vakuum-Tunnel notwendig ist, in denen Kapseln mit Passagieren vorbei sausen. Deswegen meinen Kritiker, es sei einfacher und müheloser Drohnen für Passagiere zu bauen.
So oder so, ob Drohne oder Hyperloop, die Digitalisierung erlaubt es, heute etwas zu verwirklichen, wovon gestern auch die mutigsten Fantasten noch nicht hätten träumen können.
Bevor solche Veränderungen in Vorpommern ankommen, muss dort allerdings erst mal das grundlegende Problem gelöst werden, nämlich der in vielen Orten vorherrschende Mangel an schneller Internetverbindung. Davon können die Schaffner der Passagierzüge der Deutschen Bahn ein Lied singen. Denn während diese Züge zwischen Stettin und Angermünde bzw. Pasewalk ziemlich langsam vorankommen, landen sie in Internetlöchern. Die Schaffner können dann mit ihren modernen Geräten gar nichts anfangen. Sie heben nur noch machtlos die Hände, weil sie nichts überprüfen und auch keine Tickets verkaufen können. So träumen sie wohl eher von funktionierenden Arbeitsgeräten als vom Hyperloop.
Stettin im Zug „der neuen Zeit”
Trotzdem sind die Urbanisten und Architekten des Büros Stadler/Prenn der Meinung, dass die Reise von Berlin nach Greifswald im Jahr 2030 mit der Magnetbahn Hyperloop nur 10 Minuten dauern wird. Ihrer Meinung nach wird die Projektierung und der Bau dieser Verbindung vier Jahre in Anspruch nehmen. Die Passagiere werden dann mittels intelligenter Taxis zu den Bahnhöfen in beiden Städten gebracht. Versuche damit gibt es in Berlin schon.
Wenn so eine Magnetbahn tatsächlich fährt (oder wenn Passagier-Drohnen kursieren) leben die Berliner faktisch an der Ostsee. Dann kann man in Charlottenburg arbeiten und am Meer oder mitten im Wald leben – oder auch umgekehrt. (Was werden die Wohnungen in solchen Metropolen dann wohl kosten? Danach fragt momentan noch niemand.)
Eine solche moderne Bahn kann auch die Lage Stettins völlig verändern. Schon in der ersten Etappe der Einführung in Polen (Bahn Magrail, Geschwindigkeit 300 km/h) würde die Fahrt nach Warschau nicht mal mehr ganz zwei Stunden dauern. Und nach Berlin? Nur ein Sprung.
Stettin sollte sich also ernsthaft für die Ideen der Visionäre interessieren. Zu wichtige Leute engagieren sich dort, als dass man das alles als Hirngespinste abtun könnte. In Stettin gibt es viele moderne Firmen und Start-Ups, die sich mit neuen Technologien beschäftigen. Im Jahr 2030 soll die ganze grenzüberschreitende Metropolregion Stettin mit einer städtischen Bahn untereinander verbunden sein.
Hyperloop, Drohnen, neue Metropole, Berlin an der Ostsee … Alles Fantasterei? Eher wohl ein weiteres Signal für den Beginn einer vollkommen neuen Zeit. Gewinnen wird derjenige, der sie nicht verschläft.
Bogdan TWARDOCHLEB
Aus dem Polnischen von Ruth HENNING