Am 11. November 1918 endete der Erste Weltkrieg – und Polen bekam seine Unabhängigkeit zurück. Die deutsch-polnische Grenze, die in den Jahren danach festgelegt wurde, war 1.912 Kilometer lang. Bis heute kann man ihren Spuren in der Landschaft folgen, auch wenn das nicht immer einfach ist.
Unter dem Titel „Die vergessene Grenze. Zapomniana granica” entdecken Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer ganzen Reihe deutsch-polnischer Unternehmungen diese Grenze wieder und dokumentieren ihre Spuren
Eine lange und verzwickte Grenze
Die Grenzen der Staaten in Mitteleuropa haben sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder verschoben. Weil ihre Geschichte eng mit der Geschichte ihrer Staaten und Völker zusammenhängt – und natürlich auch ganz konkreter Personen – ist es wichtig, immer wieder über diese Grenzen zu sprechen. Denn sie sind mehr als nur Linien im Raum und auf Landkarten.
Es heißt, dass der Verlauf der deutsch-polnischen Grenze nach dem Ersten Weltkrieg im Zusammenhang mit dem Versailler Vertrag vom 28. Juni 1919 entschieden wurde. Tatsächlich aber dauerte dieser Prozess bis zum Jahre 1922. Einfluss auf den Grenzverlauf hatten Volksabstimmungen im Ermland, in Masuren und Oberschlesien sowie die Schlesischen Aufstände. Im Westen verlief die Grenze von der Ostsee auf der Höhe der Halbinsel Hel bis nach Oberschlesien. Im Norden reichte sie von Danzig bis zur litauischen Grenze. 1.912 Kilometer zählte ihr Lauf, sie war damit deutlich länger als die Grenze zwischen Deutschland und Polen heute. Der Abschnitt im Westen zählte 1.305 Kilometer, der im Norden 607. Dass die Grenze oft im Zickzack verlief, ist ein Hinweis darauf, wie schwierig es war, sie im Gelände zu markieren. An dieser Aufgabe arbeiteten internationale Kommissionen.
Grenzkriege
1918 erlangte Polen nach 123 Jahren der Teilung seine Unabhängigkeit wieder. Das Jahr 1918 war auch das Jahr, in dem das freie Finnland entstand, das seine Unabhängigkeit schon 1917 proklamiert hatte. Es entstanden die unabhängigen Staaten Litauen, Estland, Lettland, die Tschechoslowakei, Ungarn und Jugoslawien (zunächst als Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen), Rumäniens Grenzen wurden neu gezogen. Einige Staaten aber konnten ihre Unabhängigkeit nicht behaupten: die westukrainische Volksrepublik, die Volksrepublik Belarus, der Freistaat Bayern, die nordkaukasische Bergrepublik, zu der Tschetschenien, Inguschetsien, Nordossetien und Dagestan gehörten und die Transkaukasische Demokratisch-Föderative Republik, die schnell in die kurzzeitig souveränen Republiken Armenien, Aserbeidschan und Georgien zerfiel. Aus den Trümmern der Kaiserreiche Österreich-Ungarn und Deutschland entstanden das neue Österreich und die Weimarer Republik. Über Russland fegte der revolutionäre Sturm hinweg.
Es waren Kriege, die vor hundert Jahren die Grenzen bestimmten. Polen kämpfte um seine Grenze mit allen seinen Nachbarn, außer mit Rumänien und Lettland.
Blutende Grenze
Von Anfang an war die neue Nachbarschaft zwischen Deutschland und Polen in den zwanzig Jahren der Zwischenkriegszeit schwierig, und der Grenzverlauf wurde auf beiden Seiten kritisiert. Vielerorts nämlich teilte die Grenze Regionen, Familien, Straßen, unterbrach Eisenbahnverbindungen.
In Deutschland, das damals einen großen Teil Westpreußens, die Provinz Posen und die wirtschaftlichen Zentren Oberschlesiens verlor (was einherging mit der Flucht und Umsiedlung tausender von Menschen), wurde sie bald eine „blutende Grenze” genannt, Polen selbst wurde als „Saisonstaat” bezeichnet.
In Polen, in dem die wiedererlangte Freiheit euphorisch gefeiert wurde, sorgte das für Empörung. Das Gefühl der Ungerechtigkeit empfanden vor allem jene, deren Heimat sich nun außerhalb der Grenzen Polens befand, obwohl sie vor den Teilungen zu Polen gehörte.
In Deutschland verlangte die Mehrheit der politischen Parteien die Revision der Grenzen von Versailles.
Demgegenüber lebten Deutsche und Polen in vielen Orten des damaliges Grenzgebietes in guter Nachbarschaft miteinander. Sie waren schon seit Jahrhunderten Nachbarn. Neu war nur der Status einer nationalen Minderheit, ein Recht, das damals erstmals gewährt wurde.
Feindbeobachtung
Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war auch die Zeit, in der die nationalen Ideen Zulauf bekamen, so auch im deutsch-polnischen Grenzgebiet. Diese nationale Rivalität spielte sich auf vielen Feldern ab. An den deutschen Universitäten in Breslau und Königsberg, die damals auch Grenzlanduniversitäten genannt wurde, entstand eine neue Forschungsrichtung, die Ostforschung.
Auf der anderen Seite der Grenze entstand in Posen, wo 1919 eine Universität gegründet wurde, der polnische Westgedanke. Dagmara Jajeśniak-Quast von der Europa Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), eine der beiden Herausgeberinnen des Buches „Die vergessene Grenze”, betont, dass diese beiden Initiativen nicht nur miteinander konkurrierten, sondern dass man sie auch als eine Art der geografischen, politischen und kulturellen Feindbeobachtung bezeichnen könne.
Die nationalen Bewegungen griffen schließlich auch auf die Wirtschaft und auf die Architektur über.
Spuren der Grenze
Inzwischen sind hundert Jahre vergangen. Im ersten Halbjahr 2018 fand an der Europa-Universität Viadrina ein Seminar statt, das die damalige deutsch-polnischen Grenze zum Thema hatte. Vorbereitet wurde es von Dagmara Jajeśniak-Quast und Ewa Bagłajewska vom Zentrum für interdisziplinäre Polenstudien an der Viadrina. Die Spuren der damaligen Grenze zu erforschen, hatte sich eine Exkursion zum Ziel gesetzt, die im Mai von Kattowitz nach Gdingen führte. An ihr nahmen Experten und Studierende teil. Sie entdeckten die Hinterlassenschaften der Grenze und veröffentlichten ihre Beobachtungen in einem eigens eingerichteten Blog.
Über Oberschlesien schrieb Robert Schwaß, der sich wunderte, dass man die Grenze damals ohne größere Schwierigkeiten überschreiten konnte. Nachdem sie festgelegt worden war, zeigte sich nämlich, dass viele Menschen auf der einen Seite lebten, sie aber auf der anderen arbeiteten.
Schwaß schreibt über die Menschen des damaligen Grenzgebietes. Er erinnert an das tragische Schicksal des berühmten Fußballer Ernst Wilimowski (1916-1997), der in der polnischen wie auch deutschen Fußballnationalmannschaft spielte. Er berichtet auch von den Erzählungen einer Polin aus Betsche (polnisch Pszczew), einem Städtchen, das nach 1918 plötzlich zu Deutschland gehörte. Trotz der schrecklichen Erfahrungen in der Nazizeit fühlt sie sich wie auch ihre Familie immer noch beiden Kulturen verbunden, der polnischen wie der deutschen.
Im Blog finden sich Beschreibungen der Grenzbahnhöfe von Bentschen (Zbąszyń), das damals zu Polen gehörte, und Neu Bentschen (Zbąszynek), ein Bahnhof, der erst nach der Festlegung der Grenze errichtet worden war. Interessant war die Lage der Ortschaft Rudzka Kuźnica, die sich nach der Grenzziehung in Polen wiederfand, aber von drei Seiten von deutschen Territorium umgeben war. Deshalb musste die Straßenbahn, die die deutschen Städte Beuthen (Bytom) und Hindenburg (Zabrze) verband, über Rudzka Kuźnica verkehren. Der „privilegierte Transitverkehr” machte es möglich. Das änderte sich erst 1929, als die Deutschen eine Parallelstrecke auf deutschem Territorium bauten. Heute, wo es die Zwischenkriegsgrenze nicht mehr gibt, befindet sich an dieser Stelle die Beuthener Straße in Zabrze.
Zwei verschiedene Stile
Nach 1918 gehörte Beuthen zu Deutschland, das benachbarte Kattowitz dagegen zu Polen. Dawid Smolorz, Historiker und Publizist, zeigte den Teilnehmern der Studienreise Gebäude, die damals gebaut worden waren. Im Stil der polnischen Moderne in Kattowitz, in Beuthen im Stil der Weimarer Republik. Die Grenze teilte nicht nur Städte, sondern auch verschiedene Stile.
In dem zweisprachigen Blog gibt es noch vieles mehr an Informationen. Erinnerungsorte der ehemaligen Grenze sind zum Beispiel Gdingen (Gdynia), eine von wenigen Städten, die von Anfang an im Stil der Moderne gebaut wurden, oder der so genannte Ostwall, der laut der Propaganda der Nazis die Deutschen vor einem Angriff Polens schützen sollte.
Im Berliner bebra-Verlag erschien soeben der kulturgeschichtliche Führer „Die vergessene Grenze. Eine deutsch-polnische Spurensuche von Oberschlesien bis zur Ostsee”. Herausgegeben wurde er von Dagmara Jajeśniak-Quast und dem Berliner Schriftsteller, Essayisten und Journalisten Uwe Rada, der unter anderem Bücher über die Oder und die Memel verfasst hat. Der Band enthält Berichte der Exkursion im ehemaligen Grenzgebiet wie auch Essays deutscher und polnischer Publizisten, Historiker und Kulturwissenschaftler, die ganz verschiedene Aspekte der Zwischenkriegsgrenze beschreiben.
Nationales Bekenntnis der Architekten
Ein Teil des Projektes „Die vergessene Grenze” ist eine Ausstellung unter dem Titel „Zwischen nationalem Stil und Moderne. Architektur der Zwischenkriegszeit in Frankfurt (Oder) und Posen”, die Dr. Szymon Piotr Kubiak vom Nationalmuseum in Stettin und Uwe Rada kuratiert haben. Die Ausstellung hatte ihre Premiere im deutsch-polnischen Zentrum Schloss Trebnitz, gerade wird sie in Frankfurt (Oder) gezeigt, danach wandert sie nach Posen und am 27. November nach Słubice.
Die Ausstellung selbst ist in einem Überseecontainer zu sehen, der leicht von einem Ort zum anderen zu transportieren ist. Auf zwölf Tafeln präsentiert sie neue Verwaltungsgebäude und Siedlungen, die damals im deutschen oder polnischen Stil gebaut werden sollten. „Die neue Grenze zwang die Architekten zu nationalen Bekenntnissen”, schreibt Dagmara Jajeśniak-Quast. Gleichzeitig betont sie, dass sie auf der beruflichen Ebene „immer im grenzüberschreitenden Kontakt blieben”.
Ergänzt wird die Ausstellung von einem Architekturführer über Frankfurt (Oder), in dem die Bauten aus der Weimarer Republik vorgestellt werden. Autor ist Viadrina-Professor Paul Zalewski, ein Absolvent der Universität Thorn (Toruń).
Westverschiebung
Die deutsch-polnische Grenze der Zwischenkriegszeit hatte nicht einmal zwanzig Jahre Bestand. Sie endete mit dem deutschen Überfall auf Polen 1939. Als Ergebnis des Zweiten Weltkrieges wurde die heutige deutsch-polnische Grenze gezogen.
Auch die heutige politische Landkarte Europas unterscheidet sich von der Zeit zwischen den Weltkriegen. Als Ergebnis des Zweiten Weltkrieges und der ihm folgenden Ereignisse kam das Ende der Sowjetunion, Jugoslawiens und der Tschechoslowakei, aus denen jeweils neue Staaten entstanden. Wieder mussten neue Grenzen gezogen werden. Auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien nahm dieser Prozess einen besonders tragischen Verlauf.
Es ist eine Binsenweisheit, dass die Ereignisse der Gegenwart am besten zu bewerten sind, wenn viel Zeit vergangen ist, weil man dann die Zeichen der Zeit besser lesen kann. Deshalb fand im Oktober in Frankfurt (Oder) eine wissenschaftliche Konferenz statt, bei der die deutsche Ostforschung und die polnische Westforschung der vergangenen hundert Jahren diskutiert wurden. Sie schlug gewissermaßen einen Bogen „von der Feindbeobachtung zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit”. Erwähnt wurde dabei auch ein Wort von Marek Prawda, Soziologe und ehemaliger Botschafter Polens in Deutschland Vor einigen Jahren sagte Prawda, dass in der Zwischenkriegszeit zwischen Polen und Deutschland zwei Monologe geführt worden seien.
Heute stehen beide Länder miteinander im Dialog, beide sind Mitglied der Europäischen Union. In den vergangenen Jahren haben sie sich aber auseinandergelebt, inzwischen tauchen andere internationale Konzepte auf, die an die Vorstellungen der Zwischenkriegszeit anknüpfen.
Über all das wurde, im europäischen Kontext, während der Konferenz des Zentrums für interdisziplinäre Polenstudien diskutiert, die den englischen Titel trägt: „(De-)constructing Central Europe: From Mitteleuropa to Visions of a Common Europe”.
Das Jahr 2018 geht zu Ende. Was wir dann kommen?
Grenzen als kulturelle Phänomene
Mit dem Phänomen der Grenzen beschäftigt sich auch eine interdisziplinäre Wissenschaft, deren Mitbegründer Prof. Zbigniew Kruszewski ist. Seit langem mit der Universität El Paso an der amerikanisch-mexikanischen Grenze verbunden, ist Kruszewski auch der Autor der ersten in den USA erschienenen Monographie über die Oder-Neiße-Grenze. Auch an der Viadrina und im Collegium Polonicum in Słubice hielt er Vorlesungen. Seit langem fordert er die Einrichtung eines Zentrums für Grenzlandstudien auch in Stettin.
Die Grenzen, die vor hundert Jahren vor allem als Demarkationslinien und militärische Hindernisse begriffen wurden, kann man heutzutage auch als kulturelle Phänomene beschreiben. Das ist auch der Blick, mit dem die Organisatoren und Teilnehmer des Projektes „Die vergessene Grenze” auf die deutsch-polnische Grenze der Zwischenkriegszeit schauen.
Es lohnt sich, ihrer Spurensuche zu folgen.
Bogdan TWARDOCHLEB
Das Projekt „Die vergessene Grenze” ist eine Initiative von Schloss Trebnitz, dem Zentrum für interdisziplinäre Polenstudien an der Viadrina, dem Collegium Polonicum in Słubice, der Adam Mickiewicz Universität Posen und des Stadtmarketing Frankfurt (Oder). Unterstützer sind unter anderem die Bundeszentrale für politische Bildung, Kulturland Brandenburg und das Marschallamt von Großpolen.
Aus dem Polnischen von Uwe RADA