– Wie gestalten sich Ihrer Meinung nach die deutsch-polnischen Beziehungen gegenwärtig? Und wie werden sie sich entwickeln?
– Obwohl die derzeitige polnische Politik gegenüber dem deutschen Nachbarn seit 1990 als die schlechteste betrachtet werden kann, sind unsere gegenseitigen Beziehungen gut. Auf beiden Seiten der Grenze leben eine Menge Leute, die sich in unterschiedlichsten Formen der Zusammenarbeit positiv engagieren. Offensichtlich ist die Anzahl der gesellschaftlich getragenen deutsch-polnischen Unternehmungen gewachsen, seitdem es Stiftungen und andere Institutionen gibt, die gemeinsame Projekte fördern können.
Wir erleben daher eine vollkommen andere Etappe der gegenseitigen Beziehungen. Mit Rührung erinnere ich mich an Zeiten, als Einzelpersonen Initiativen zur Annäherung ergriffen. Dem Mut der deutschen Kirchen (Aktion Sühnezeichen und Pax Christi) und des polnischen Episkopats in den sechziger Jahren verdanken wir es, dass wir die Zeit der Feindschaft und der Vorurteile in Zeiten des Kalten Krieges hinter uns gelassen haben. Als Konsequenz des Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen (Warschauer Vertrag) vom 7. Dezember 1970 entstanden die ersten institutionalisierten Formen der Zusammenarbeit, wie etwa das Deutsch-Polnische Forum, die Schulbuchkommission und Städtepartnerschaften. Dieser bahnbrechende Vertrag ebnete den Weg zur endgültigen Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze (Oder-Neiße-Linie) von 1990. In diesem Zusammenhang ist es angebracht an das große Engagement passionierter Anhänger der Versöhnung zwischen beiden Völkern zu erinnern. Umso mehr als die gegenwärtige Regierung sie für Schwächlinge hält, die eine „Politik des Kniefalls“ verfolgen.
– Seit wann interessieren Sie sich als Wissenschaftlerin für deutsch-polnische Angelegenheiten?
– Als Historikerin beschäftige ich mich mit deutschen Angelegenheiten seitdem ich im Jahr 1969 meine erste Arbeit im Posener West-Institut aufnehmen konnte. Das Institut beschäftigte sich hauptsächlich mit Deutschland und bestimmte wissenschaftliche Arbeiten galten als obligatorisch. Deutsch lernte ich sozusagen „nebenbei“, zuerst passiv und dann ab 1976 aktiv mit einem Stipendium von der Alexander-von-Humboldt-Stiftung. Damals fuhr ich zum ersten Mal in den Westen. Ich fuhr voller Vorurteile, überzeugt davon, dass jeder ältere Deutsche ein Nazi ist. Wohl meine ganze Generation wuchs in der Überzeugung auf, dass in den Deutschen ein „Verbrecher-Gen“ steckt. Das Leben wurde zum Prüfstein dieser Auffassung. In Bonn traf ich großartige Menschen und schloss erste Freundschaften mit Deutschen, die mir die Augen dafür öffneten, dass es vollständig andere Deutsche gibt. Die Überprüfung des Bildes des „schlechten Deutschen“ begleitete mich mein ganzes berufliches Leben.
– Wie sah es damals im Westinstitut, dieser für die deutsch-polnischen Beziehungen sehr wichtigen Arbeitsstelle aus?
– Als ich dort damals meine Arbeit aufnahm, war das Institut im Vergleich zu anderen Instituten in Polen ziemlich tolerant. Wir beschäftigten uns hauptsächlich mit der Besatzungszeit, mit der Frage der West- und Nord-Gebiete, mit dem westdeutschen Revisionismus, also mit der Arbeit der Vertriebenenverbände. Das war schließlich die Zeit der Konfrontation im Kalten Krieg. Es gab keinen Zugang zu anderer Literatur. Internationale Kontakte waren hauptsächlich auf die DDR beschränkt und der Anteil jüngerer wissenschaftlicher Mitarbeiter auf den großen Konferenzen war eher gering. Damals waren die gegenseitigen Beziehungen gewissermaßen eingefroren, vor allem wegen der Nichtanerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die BRD und der westdeutschen Rechtsdoktrin, die die Aufrechterhaltung Deutschlands in den Grenzen von 1937 proklamierte. Damit konnte man sich nicht einverstanden erklären. Viele Fragen galten als Tabu. Der Kniefall von Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Ehrenmal der Helden des Warschauer Ghettos, der Brief der polnischen an die deutschen Bischöfe von 1965, das waren Ereignisse, die kaum auf Interesse stießen.
– Haben diese Tatsachen zu einer echten Öffnung der deutsch-polnischen Beziehungen geführt?
– Das war wegen des „eisernen Vorhangs“ unmöglich. Eine echte Öffnung erfolgte erst nach 1990. Glücklicher Weise fiel das mit meiner Berufung zur Direktorin des West-Instituts zusammen. Dieser Umbruch ermöglichte es uns als Mitarbeiter*innen die Wissenschaftspolitik des Instituts selbstständig zu gestalten.Einstellungen, Haltungen und Teile der Geschichtsschreibung mussten revidiert, neue Themen aufgegriffen werden. Außerdem interessierten sich die Deutschen für Polen, unser Institut zog viele Forscher nicht nur aus dem wiedervereinigten Deutschland an.
Wir nutzten diese Chance und luden unterschiedliche deutsche Kreise ein, nicht nur solche, die Polen gegenüber freundschaftlich gesonnen waren. Bei uns waren unterschiedliche Fraktionen der deutschen Minderheit in Polen zu Gast, zu einer Zeit, als in Nachkriegspolen zum ersten Mal von einer „deutschen Minderheit“ die Rede war. Das haben damals viele nicht akzeptiert. Der Prozess des gegenseitigen deutsch-polnischen Verstehens ging langsam aber systematisch vor sich. Vierzehn Jahre lang habe ich diesen Prozess begleitet, während ich das West-Institut leitete. Es war seine interessanteste Zeit.
– Begleitet? Schließlich haben Sie diese Entwicklung mitgestaltet.
– Stimmt, zum ersten Mal hatte ich in meiner Berufstätigkeit das Gefühl an der Entwicklung von Geschichte teilzunehmen, sie mit zu schaffen. Es war die Zeit großer Leidenschaften und pioniermäßigen Überschwangs. Mit umso größerer Enttäuschung verfolge ich die Dekonstruktion und Vereitelung der damaligen Leistungen. Das Ende meiner Tätigkeit als Institutsdirektorin fiel zusammen mit der zwei Jahre andauernden Regierungskoalition aus PiS (Recht und Gerechtigkeit), LPR (Liga Polnischer Familien) und Samoobrona (Selbstverteidigung). Die revisionistischen und ahistorischen Forderungen von Erika Steinbach und Rudi Pawelka auf deutscher Seite trafen auf den antideutschen Kurs der polnischen Regierung. Es begann die erste Etappe gegenseitiger Beschuldigungen und feindlicher Rhetorik seit dem Umbruch des Jahres 1990. Der PiS-Vorsitzende stellte die Errungenschaften der III. Republik Polen in der Versöhnung mit den Deutschen in Frage, wie auch diejenigen, die „sich in der Versöhnung verloren“ hätten, die er auch als „nützliche Idioten“ bezeichnete. Nach 2015 kehrten die Stimmungen dieser Zeit mit einem neuen Schlagwort zurück: „Sich von den Knien erheben“. Alles was sich auf Dialog, Kompromiss und Aussöhnung mit den Deutschen bezog, wurde als Servilismus gegenüber dem westlichen Nachbarn gekennzeichnet. Es fällt also schwer heute von normalen deutsch-polnischen Beziehungen zu sprechen.
– Aber dennoch betonen Sie, die deutsch-polnischen Beziehungen seien nach wie vor gut.
– Für die Menschen aus den Bereichen Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft steht die Welt offen, für sie gibt es keine Zensur und keine Grenzen. Die politische Klasse macht die Politik, aber Nachbarn leben neben Nachbarn und von ihnen hängt das Gefühl von Gemeinschaft, vom Willen zur Veränderung und zur Überwindung von Vorurteilen und Stereotypen ab. Die politische Rhetorik hat bisher jedenfalls nicht zu einer Schwächung der Kontakte und des Willens zur Zusammenarbeit geführt. Ich hoffe, dass sich auf diesem Gebiet nicht viel verändert, höchstens zum Guten. Aber in einer Situation wie heute, wo die Welt so unvorhersehbar geworden ist, ist es schwer etwas vorauszusagen. Die Unsicherheit wächst, gesellschaftliche Stimmungen radikalisieren sich, vor allem unter Jugendlichen. Die sichtbarer werdende Kraft des Rechtsextremismus in ganz Europa ruft Unruhe hervor.
– Es gibt heute sehr große Unsicherheiten.
– Unser Sicherheitsgefühl hängt von nicht vorhersehbaren und sehr unterschiedlichen Faktoren ab, nicht nur von der Lage in der Europäischen Union, sondern auch der in der Türkei, in Syrien, Afghanistan, Russland, der Ukraine. Viel hängt davon ab, welche Haltung unsere Staaten, Deutschland und Polen, gegenüber der Situation in diesen Ländern einnehmen werden. Leider befinden wir uns in einer unglücklichen Lage. Zwar heißt es auf deutscher Seite immer, Polen sei für Deutschland wichtig, aber Polen tut alles, um in Isolation zu verharren. Es fehlt an gemeinsamen Initiativen, Visionen, Taten.
Es ist bedauerlich, dass Polen sich gerade jetzt, wo es nach dem Brexit notwendig ist, eine neue Perspektive für Europa zu entwickeln, konfrontativ gegenüber Deutschland verhält und die deutschen Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs in den Vordergrund stellt. Schließlich kann man diese Frage aus einer anderen Perspektive betrachten. Mir liegt nahe, was Tadeusz Mazowiecki sagte, dass wir gerade deshalb zu Aussöhnung und gemeinsamem Handeln verpflichtet sind, weil wir so schreckliche Erfahrungen hinter uns haben. Wir müssen an die Vergangenheit erinnern, aber auch alles tun, damit unsere Kinder und Enkel in einem sicheren Europa leben können.
– Womit sollten wir uns also gemeinsam beschäftigen?
– Es gibt viele neuralgische Punkte: Klimawandel und Umwelt, Energiewirtschaft, Migration, Lage in Osteuropa, Nordstream II, deutsch-polnische Grenzregion und was wird, wenn Angela Merkel aus der Politik ausscheidet. Deutschland war während einiger Jahrzehnte eine Bastion der Sicherheit und Stabilität. Die Rolle, die Angela Merkel in diesem Zusammenhang gespielt hat, eine Frau aus der DDR, Tochter eines evangelischen Pastoren, der von der polnischen Solidarność fasziniert war, kann man gar nicht überschätzen. Was wird aus Europa nach ihrem Abtritt? Wird es ein Europa der zwei Geschwindigkeiten geben? Es wird bereits ein Budget für die Eurozone verhandelt, aber Polen will mit dem Euro nichts zu tun haben. Wir bleiben am Rand, das ist kein gutes Szenario. Die gegenwärtige wirtschaftliche Lage in Polen ist nicht schlecht. Wir könnten darüber nachdenken, uns schneller der europäischen Spitze anzuschließen.
– Wie geht es weiter? Wird es neue Krisen geben?
– Die Krise in Griechenland konnte, wenn auch unter hohen Kosten, entschärft werden. Dann kamen Portugal und Spanien, jetzt Italien. In einer solchen Situation Europa den Rücken zu kehren und sich auf Donald Trump zu stützen halte ich einfach für einen politischen Fehler. Deutschland und Polen brauchen eine ausgereifte und durchdachte europäische, gemeinschaftliche und nicht eine nationale Außenpolitik. Wir befinden uns in einer auch gesellschaftlichen Krise. Die, wenn auch unterschiedlichen, Krisensymptome sieht man in unseren beiden Staaten.
– Können wir diese Krise als Gesellschaft überleben?
– Ich kehre noch einmal zu den 70er Jahren und der Ostpolitik des Kanzlers Willy Brandt zurück. Brandts Mitarbeiter Peter Bender sagte, wenn man in der Außenpolitik irgendetwas erreichen wolle, müsse man Mut in der Innenpolitik zeigen. Das sehe ich auch so, aber einen solchen Mut gibt es zur Zeit nicht. Ich habe den Bericht von Gunter Hofmann über ein Treffen von Alexander Dubcek, Willy Brandt und Bronisław Geremek im Jahr 1992 mit Studenten in Paris gelesen. Jemand warf dort Willy Brandt vor, er sitze jetzt neben einem polnischen Oppositionellen. Als er jedoch 1985 in Polen gewesen sei, habe er nicht den Mut gehabt, sich mit Lech Wałęsa und der Opposition zu treffen. Darauf antwortete Brandt, das tue ihm leid, aber damals habe er nicht gewusst, was er heute wisse. Nach den Ereignissen von 1956 und 1968 konnte er sich nicht vorstellen, dass der Weg von Solidarność erfolgreich sein könnte. Damals wusste er es nicht, aber die Erfahrungen haben ihn gelehrt, dass man auch die größten Imperien mithilfe nicht politischer Mittel zu Fall bringen kann. Daraus schließe ich, dass Bürger, die sich ihrer Rechte und Pflichten bewusst und überzeugte Demokraten sind, die realen Verhältnisse ändern können. Dazu bedarf es einer starken Zivilgesellschaft.
– Blicken wir aus dieser Perspektive noch einmal auf die deutsch-polnischen Beziehungen.
– In Deutschland und Polen gibt es ein nicht unerhebliches Potential von Menschen, die von der Idee einer Zusammenarbeit der Nachbarn überzeugt sind und Europa gemeinsam verändern wollen. Für sie ist der Alltag ein Plebiszit der Versöhnung. Ich will daran glauben, dass diese Bewegung, diese Initiativen von unten sich verstärken. Wir brauchen eine heftige, stürmische Bewegung für die Rückkehr zur Normalität in den gegenseitigen Beziehungen. Es geht darum, zwischen Deutschland und Polen für eine gute und sichere Zukunft zu sorgen.
Das Gespräch führte Ewa Maria SLASKA
Schriftstellerin, Journalistin, Übersetzerin, Aktivistin der Polonia, Vorsitzende des Vereins Städtepartner Stettin e.V. Lebt in Berlin.
Aus dem Polnischen von Ruth HENNING