In Berlin leben knapp 4 Millionen Menschen, in Stettin 400 000. Wie kann Stettin sich in Berlin behaupten? Was hat Stettin, das Berlin nicht hat?
Berlin hat keinen Zugang zum Meer – Stettin schon, sagt Zbigniew Zbroja. Und der kürzeste Weg von Berlin zur Ostsee führt über Stettin. Den kann man mit jeder Jacht befahren. Anders als früher, gibt es heute keine Grenzkontrollen und Schlagbäume mehr. Dem Schengener Abkommen sei Dank.
Zbroja arbeitet im Fachbereich Schiffbau der Technischen Universität Stettin, wo er Boots- und Schiffbau unterrichtet. Zudem ist er seit vielen Jahren aktiver Segler und Vorsitzender des Vereins „Grenzüberschreitendes Tourismuscluster Wasserstraße Berlin-Stettin-Ostsee“.
Er wirbt für den Wasserweg, befährt ihn selbst mit Jachten. Über die Oder, den Wriezener Altarm nach Oderberg, das Schiffshebewerk in Niederfinow hinauf in den Finowkanal und schließlich havelabwärts nach Berlin hat der Skipper schon manches Mal Studenten und Journalisten befördert. Vielfach segelte er die Runde Stettin – Berlin – Frankfurt/O-Stettin. Er kennt auch den Norden, das Stettiner Haff und die Ostseeinseln Usedom, Wollin und Rügen.
“Das Revier zwischen Berlin und Stettin ist ideal für Wassersportler, selbst für Segler”, sagt er. “Auf deutscher Seite finden sich über 80 Häfen und Anleger, in Polen mehr als 20.”
Kontakte unter Seglern
Als Berlin sich mit dem Gedanken trug, die Olympischen Sommerspiele auszurichten, schlug Zbigniew Zbrojas Verein dem Berliner Seglerverband vor, gemeinsam für eine Ausrichtung der Segelwettkämpfe beiderseits der Grenze auf dem Haff und in der Pommerschen Bucht zu werben. Eine Übereinkunft wurde geschlossen, doch aus Olympia wurde nichts, denn die Berliner lehnten die Spiele ab. Der Kontakt unter den Seglern aber besteht weiter und der Verein Zbrojas wirbt weiter konsequent für die Wasserstrasse Berlin – Stettin – Ostsee. Immer noch, wenn auch weniger aktiv, nimmt er Teil an Berliner Konferenzen zum Wassersport und an den Berliner Messen. Erst letzten Herbst fuhr Zbroja mit Studenten seines Fachbereichs auf die Messe Boot & Fun Berlin.
Einzigarbtiges Schiffshebewerk
Ab dem kommenden Jahr könnte der Verkehr auf der Wasserstraße Berlin – Stettin – Ostsee deutlich anwachsen, wenn das neue Schiffshebewerk in Niederfinow eröffnet wird. Für Zbroja ist dies ein einzigartiges Ereignis, nicht nur für Berlin und Stettin, denn in unserem Teil Europas findet sich nichts Vergleichbares.
Notwendig ist dieses Hebewerk, weil die Oder und mit ihr der Stettiner Hafen 36 Meter tiefer liegen als der Einzugsbereich der Elbe. Und zu diesem zählen Spree und Havel und damit Berlin. Um Schiffe vom Seehafen Stettin sicher nach Berlin zu bringen entstand schon vor Jahrhunderten ein kompliziertes System aus Schleusen und Kanälen zwischen Oder und Havel. Als dieses nicht mehr ausreichte, baute man in Niederfinow bei Eberswalde, am Fuße des Steilhangs am Ostende des Oder-Havel-Kanals, das 1934 in Betrieb genommene Hebewerk. Einfach ausgedrückt baute man einen sehr kräftigen Aufzug mit einer riesigen Wanne in der man Schiffe rauf und runter transportieren kann. Fast ohne Havarie arbeitet dieses Wunderwerk der Technik und Symbol wirklicher Ingenieurskunst nun schon 84 Jahre lang!
Wunderschön eingefügt in die Landschaft ist es zugleich eindrucksvoll anzuschauen und zieht alljährlich 150 000 Besucher an. Sie kommen um ganz aus der Nähe zu beobachten, wie Binnenschiffe und Jachten mal nach unten, mal nach oben fahren.
Flagge zeigen für den Wassersport
Das Hebewerk aus dem Jahre 1934 aber ist zu klein geworden für die größten Binnenschiffe, die heute Europas Binnengewässer befahren. Deshalb entsteht gleich nebenan, in Absprache mit Naturschutz und Landschaftspflege, ein neues, größeres Hebewerk für 300 Millionen Euro. Mit seiner Fertigstellung werden auch die größten europäischen Binnenschiffe von 115 Meter Länge, 12,5 Meter Breite und 5,25 Meter Höhe über dem Wasserspiegel, zwischen Ostsee und Berlin verkehren. Dann wird man auch zweistöckige Containerschiffe und die größten Flusskreuzfahrer sehen.
“Wir planen mit Jachten zur Eröffnung zu kommen. Über das schöne, alte Hebewerk hinauf in den Finowkanal und durch das neue zurück auf die Oder”, sagt Zbigniew Zbroja.
Es geht ihm darum Flagge zu zeigen für den Wassersport und für den Tourismus, für die Menschen und für die Landschaft am Fluss.
Unvergessliche Landschaften
Dieses Wassersportrevier, so Zbroja, ist ideal für Familiensegeln, für Kajakwanderer, Bootsfahrer, Kanuten und die immer beliebteren Hausboote. Dabei erzählt er nicht nur vom Wasser, sondern wirbt auch für Sehenswertes in der Region, ungewöhnliches wie zum Beispiel das nördlichste deutsche Skispringerzentrum in Bad Freienwalde, oder das Odermuseum in Oderberg, diesem malerisch an den Hang der Moränenhügel gebauten Städtchen. Und die Aussicht, zu beiden Seiten der Oder und der Grenze sei einfach unvergesslich.
Dem Unterlauf der Oder nach Stettin und zur Ostsee folgend, trifft man auf eine wunderschön geformte Landschaft mit Hügeln, Wasserflächen und ruhigen Buchten. Allerdings dürften Jachten mit Verbrennungsmotoren in dieser Landschaft nicht überall hin, aus Rücksicht auf die einmalige Natur, geschützt als Naturpark, Nationalpark und Natura2000-Gebiet. Aber in Schwedt, Gartz, Widuchowa oder Gryfino kann man anlegen und weiter geht es mit Kajak oder Fahrrad zur Entdeckung des geheimnisvollen Unteren Odertals. So zum Beispiel lassen sich im kleinen Gartz große Kranichschwärme beobachten und mit dem Kajak die unzähligen Kanäle des Zwischenoderlandes beiderseits der Grenze erfahren. Und dann ist da ja noch Stettin mit seinen Jachthäfen und einem reichen Kulturangebot.
In Stettin ist es an der Zeit den Mast zu stellen, der zuvor, wegen der Brückendurchfahrten umgelegt war, und Segel zu setzen hinaus aufs Stettiner Haff nach Neuwarp, Wolin, Rieth, Ueckermünde, Swinemünde und weiter auf die Ostsee, entlang der Inseln Usedom und Wolin oder auf die Kreideinsel Rügen.
Zbigniew Zbroja versichert: Wer seinen Verein um Reisevorschläge auf der Wasserstraße Berlin-Stettin -Ostsee bittet, dem helfe man bei der Zusammenstellung von Liegeplätzen, Sehenswertem, Kartenmaterial und Handbüchern.
Boote für Oder und Haff
Die Zahl der kleinen Häfen entlang der Oder nimmt ständig zu. Schließlich muss man die Infrastruktur für den Wassersport weiter ausbauen, den Bedürfnissen der Segler anpassen und dem Umweltschutz gerecht werden. Und, man müsse auch, ist Zbroja überzeugt, über Boote für das Odertal und die Odermündung nachdenken – solche, die dem Revier gerecht werden. Plattbodig, mit wenig Tiefgang, zum Beispiel Katamarane und Jachten mit einem einfachen Steckmast für den kein Kran notwendig ist.
An der Technischen Universität in Stettin arbeiten die Studenten an Entwürfen für solche Schiffe und Jachten.
Paweł MALICKI
Freier Journalist, Stettin
Aus dem Polnischen von Mathias ENGER